Sie sang den ganzen Tag. Früh schon, wenn ich aufwachte, hörte ich sie. Sie stand in der Küche, kochte, backte, wusch ab, und bei allem was sie tat, sang sie. Vielleicht tat sie das, um meinen blinden Großvater zu erfreuen, vielleicht beruhigte und versorgte sie sich damit selbst. Für mich war es ein „Raum der Geborgenheit“, wenn sie sang. Ich konnte hineinkriechen und war sicher. Es war wohl ihre Art mir zu sagen. „Mach dir keine Sorgen, Liebling. Ich bin da – für dich – immer.“

Mein Großvater trug mich auf seinen Schultern – hoch über der Erde – und ich konnte auf alles aus sicherer Entfernung herabschauen. Das tue ich bis heute, wenn es mir zu viel wird auf dem unsicheren „Boden der Realität“. Dann setze ich mich im Geiste auf seine Schultern, und betrachte das geschäftige Treiben in der Welt, das mir Angst macht, von oben.

Ist das nicht eine eigenartige Metapher:ich sitze auf den Schultern eines Blinden und „sehe“. Doch während der Blinde mit beiden Beinen sicher auf der Erde steht, brauche ich als Sehender die Perspektive von oben, um mich sicher zu fühlen – und „über den Dingen zu stehen“ -. Weil ich meinen Gefühlen nicht traue, wie der Blinde es tun muss. Für den Sehenden ist das Sehen sein Halt in der Welt, während die Augen des Blinden seine Ohren und das Fühlen sind. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, kommen mir da die Worte Exupérys aus dem „kleinen Prinzen“ in den Sinn. „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“.

Vielleicht „sehen“ die Blinden „das Wesentliche“, und haben deshalb weniger Angst und Selbstzweifel als die Sehenden.

„Die Augen sind blind. Man muss mit dem Herzen suchen“, heißt es ja auch später an anderer Stelle bei Exupéry.

So lernte ich als kleines Kind, mich mit geschlossenen Augen sicherer zu fühlen als mit offenen. Ich lernte, „mit den Ohren zu sehen“ und „mit dem ganzen Körper zu hören“. Und ich fühle mich sofort geborgen, wenn ich singe, oder wenn ich Singen höre. Es ist doch erstaunlich, wie die frühen Erlebnisse uns prägen für das ganze Leben.

Und noch etwas gehört dazu in meiner ersten Entwicklungsphase: die Hunde, die mein Großvater züchtete und ausbildete für andere blinde Menschen. Ich wuchs zwischen Welpen in der Hundehütte heran – die Hündin wurde meine zweite Mutter, und oft war sie die bessere. Ihr Instinkt sagte ihr, was zu tun war, nicht ihr Verstand oder ihre Regeln. Sie stellte sich nicht die Frage, ob ich „gut genug“ war, und was andere wohl über mich dachten. Sie ließ mich einfach sein, wie ich war. Sie begleitete mich, genau wie ihre Welpen auf Schritt und Tritt und passte auf, mir potenzielle Gefahren zu zeigen. Sie spielte mit mir, und ließ niemanden an mich heran, den sie nicht kannte. Das alles ohne Worte. Wir verstanden uns „blind“, denn auch die Augen des Instinktes und des Vertrauens sitzen im Herzen und nicht im Kopf.

Und als sie ihr die Welpen wegnahmen, tröstete ich mit meiner Gegenwart ihren Schmerz. Wir lagen miteinander unter dem Küchentisch, und lauschten dem Gesang meiner Großmutter. 

Meine frühe Kindheit war erfüllt von Sinnlichkeit, Geborgenheit und AngenommenSein. Ich erinnere den Geschmack von Walderdbeeren, Birnen und Aprikosen bis heute ebenso, wie Karotten und schwarze Johannisbeeren, Himbeeren und all das andere Obst, das im Garten meiner Großeltern wuchs. Ich weiß bis heute, wie die Hündin roch, und meine Großmutter, wenn ich auf ihrem Schoß saß während sie mir Geschichten „von früher“ erzählte. Und das dicke, schwere Federbett, unter das ich kroch, wenn meine Eltern, mit denen ich mir das Zimmer teilte, „ausschlafen“ wollten am Sonntag. Die frisch gestärkten Laken und Bezüge – alles Gerüche, die ich bis heute in mir trage. Ich wusste nicht, wie sehr meine Eltern unter der Enge in dem kleinen Haus litten, in dem wir alle zusammenlebten. Für mich war es das Paradies.

Und dann, eines Tages wurde ich gewaltsam herausgerissen.

Ich habe es in meinem Gefühlskörper bis heute nicht verstanden, geschweige denn verarbeitet.

Aber ich weiß bis heute, wie sich Geborgenheit anfühlt, und wie man sie gibt. Allem, was klein ist und hilflos ist, kann ich sie geben. Allem, was schwach ist und bedürftig nach diesem „warmen, weichen Federbett“, und nach bedingungslosem Angenommensein. Ich „sehe“ den Kern eines Menschen, und erkenne, was er braucht, um ihn in sich selbst zu entdecken. Ich weiß, wie man das tiefste Gefühl in einem Menschen nährt: Urvertrauen.

Doch ich trage auch den abgerissenen Arm des schmerzhaften Verlustes in mir von allem, was ich liebte, und was mir vertraut war als kleines Kind. Ich habe diesen Schmerz des Verlassens und des Verlassenwerdens in eine Kiste gelegt, wo ich ihn verwahre, bis er sich rührt, wenn ich ihn in einem anderen Menschen begegne, der auf der Suche ist nach dem HeilSein in sich selbst.

Als Kind jedoch tat ich alles, damit andere mich nicht von sich stießen, um diese tiefste Wunde in mir nicht „von der Kette zu lassen“, ihr nie wieder in die Augen sehen zu müssen, denn ich war überzeugt davon, dass ich etwas Schlimmes getan haben musste, als man mich von meinen Großeltern und meinem Zuhause wegnahm. Aber ich konnte es nicht finden. So verlor ich den Zugang zu meinem inneren Selbst, meinem Selbstvertrauen, meinen Selbstwert. Ich war es ja nicht wert gewesen, in diesem, meinem Paradies zu bleiben.

Mein Sündenfall ereignete sich, als ich keine drei Jahre alt war…

 

Fortsetzung folgt …