Wenn „Verstehen“ plötzlich nicht mehr möglich ist

 

Anna war seit fast 40 Jahren meine beste Freundin – bis Corona kam. Es begann mit kleinen, fast unmerklichen Rissen und endete in einer Sackgasse. Erst habe ich es hingenommen, dachte an ein ganz normales Auf und Ab in einer Freundschaft, dann war ich mehr und mehr irritiert und weigerte mich, es zu sehen. Im Laufe der Monate aber war das nicht mehr möglich, und ich konnte es nicht begreifen. Missverständnisse und Fehlinterpretationen begannen sich zu häufen, und wuchsen sich zu Spalten, später zu Gräben aus. Am Ende schien es, als würden wir in zwei komplett unterschiedlichen Welten leben. Dann entschlossen wir uns zu einer Auszeit.

Es tat unendlich weh. Aber nach einer Zeit der Trauer über das Verlorene, begann sich in mir der Teil zu regen, der nicht bereit ist aufzugeben, bevor etwas als gescheitert betrachtet werden muss. Egal wie lange es dauern würde, ich wusste, in allem liegt auch immer eine Chance verborgen oder besser gesagt eine Erkenntnis.

Und das, was ich schlussendlich fand ist viel größer und globaler, als ich je vermutet hatte.

 

Die Macht der Stimme

 

Ich arbeite seit etwa 34 Jahren als Stimmtrainerin und Kommunikationspsychologin. Ich berate Menschen in Persönlichkeitsfragen und in Erziehungskonflikten. Ich schule Führungskräfte darin, ihre Wirkung zu steigern, indem sie die natürliche Autorität ihrer Persönlichkeit mittels ihrer Stimme entdecken und einsetzen lernen. Und ich begleite mit denselben Techniken Heranwachsende durch ihre Pubertät.

Stimme ist meine Leidenschaft als Sängerin, Trainerin, Vortragsrednerin, Regisseurin und Vorleserin. „Ich gebe der Stimme eine Stimme“ wenn ich mit Menschen arbeite und fungiere dabei wie eine Übersetzerin.

Ich forsche darüber hinaus seit vielen Jahren an der Aussagekraft des angeborenen Stimmklangs in Bezug auf Charakter, Anlagen und Potenzialen im beruflichen wie im persönlichen Kontext.

In der Stimme kann der Mensch nicht lügen, wohl aber darin, was er sagt. In der Stimme schwingt immer mit, warum er etwas wie sagt. In der Stimme ist ein Mensch ganz er selbst.

Im unmittelbaren Miteinander der „analogen Welt“ schwingen unendliche Facetten der sprechenden Person ununterbrochen mit. Jeder von uns ist ein einzigartiges, in allen Farben und Facetten schillerndes Individuum. Wir „lesen“ in uns gegenseitig, wenn wir uns begegnen- wie in einem Buch. Die Fähigkeit, diese vielen Zusatzinformationen aufzunehmen und zu verarbeiten ist uns angeboren. Sie dient der Natur zum Überleben. Doch leider wird uns diese Fähigkeit in der „modernen Welt“ mehr und mehr abtrainiert – in einer digitalen Welt geht sie fast vollständig verloren.

 

Stimme ohne Persönlichkeit

 

Digitale Medien schaffen es, nonverbalen Zusatzinformationen mehr oder weniger stark wegzufiltern. Sie begrenzen die Frequenzen der Stimme, bügeln sie sozusagen „glatt“, denn im Digitalen gibt es nur Eins oder Null, schwarz oder weiß. Die digitale Technik muss sich quasi immer „für eine Seite entscheiden“. Dadurch verlieren sich alle Zwischentöne, alles das, was mit allen Sinnen aufgenommen werden kann. Wir spüren nicht mehr, wenn jemand beim Sprechen eine natürliche Pause macht, wenn er überlegt und sich etwas „in ihm“ abspielt, bevor er seinen Gedanken weiterentwickeln kann, oder er die Richtung im Denken verändert. Und so unterbrechen wir uns ständig gegenseitig, reden viel zu schnell, damit uns keiner mehr „ins Wort fallen kann“, und nehmen uns so „die Luft“. Atemholen wird zur Einflugschneise für Unterbrechungen. Eben weil alle nonverbalen Signale im digitalen Raum nicht mitübertragen werden. Eine fatale kommunikative Abwärtsspirale wird dadurch in Gang gesetzt. Und die Folgen zerstören mehr und mehr respektvollen und wertschätzenden menschlichen Umgang miteinander. Man hört sich nicht mehr zu, sondern ist nur noch damit beschäftigt, was man selbst als nächstes sagen will, und wartet auf die nächste Atempause des Gegenübers, um sich selbst „zur Sprache zu bringen“. Aus einem echten Dialog oder einem Meinungsaustausch wird ein Kampf der Argumente.

 

Schöne, neue „digitale“ Welt

 

Es gibt es nur schwarz oder weiß, Eins oder Null, Recht haben oder Unrecht haben. Fake-News sind nur deshalb möglich. Entweder man glaubt es oder man glaubt es nicht. Man muss sich immer entscheiden. Es gibt keine Grautöne mehr, kaum noch die Möglichkeit, seinen eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Daumen hoch oder runter. Debatten dienen nur noch dem Schlagabtausch. Argumente wertfrei auf sich wirken zu lassen, um sich eine differenzierte eigene Meinung zu bilden, mit der Option, dass auch ein Anderer wertvolle Aspekte zu dem Bild beitragen kann, das ich bis dahin habe ist völlig aus der Mode gekommen. Die Fähigkeit zum Meinungs-AUSTAUSCH wird nicht mehr gepflegt. Und was man nicht pflegt, geht ein.

In einer digitalen Welt werden Meinungen nicht mehr „getauscht“, sondern „vertreten“. Es wird um sich getreten, beschimpft, beleidigt, herabgesetzt, verfolgt und vernichtet. Erst wenn der Andere am Boden liegt und keine Luft mehr bekommt, hört man – manchmal – auf und ist zu-frieden.

 

Spaltendes Verstehen ohne Empathie

 

Mittlerweile gibt es die „Geimpften“ und die „Nicht-Geimpften“. Warum welche Entscheidung getroffen wird oder wurde – uninteressant. Schwarz oder weiß. Eins oder Null. Ohne anzuerkennen, dass jemand für seine Entscheidung vielleicht einfach noch Zeit braucht, oder aus Sorge zu denen zu gehören, die mit schweren Nebenwirkungen zu rechnen haben noch zögert. Oder dem sogar vom Arzt abgeraten wurde. Egal! Du bist nicht geimpft, also „musst du draußen bleiben“.

„Nur für Weiße“ steht heute immer noch an manchen Türen. Und inzwischen gibt es tatsächlich auch ein Schild, auf dem steht „Nur für Geimpfte“. Führt der Weg wirklich zurück in eine Welt der Ausgrenzung, der Intoleranz und Ignoranz. Ist nicht die

ganze Menschheit ein Regenbogen der Vielfarbigkeit, der jeden, der ihn am Himmel sieht glücklich macht? Wollen wir zukünftig weiter lieber in einer schwarz-weißen Welt leben? In einer trügerischen Sicherheit ohne Farben und Möglichkeiten, ferngesteuert und kontrollierbar?

Ich persönlich liebe Farben und Zwischentöne und Dinge, die man anfassen kann, riechen und schmecken. Und ich liebe Menschen, die eine eigene Meinung haben und es schaffen, die Meinung des Anderen neben der ihren bestehen zu lassen, weil das Vielfalt ist und den Menschen erst zum Menschen macht.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: ich bin weder gegen Impfung noch gegen Digitalisierung. Auch ich möchte, dass wir möglichst alle gesund bleiben und möchte das Internet nicht mehr missen, oder mein Smartphone. Der technische Fortschritt ist ein Segen in vielen Bereichen.

Aber ich bin „gegen“ eine Digitalisierung des Zwischenmenschlichen. Wenn Kommunikation nur noch aus Whatsapp-Nachrichten besteht, anstatt aus Begegnungen. Wenn Gespräche zu Ping-Pong-Spielen werden, anstatt zu einem Austausch mit Reden und Zuhören, Aktion und Reaktion, Nachdenken und Hinhören, und vor allem mit Zeit füreinander. Ich möchte wieder echten Blickkontakt bei dem die Augen miteinander sprechen und nicht der seelenleere Blick in eine Kamera oder hinter einer Maske dieses menschlichste aller Kommunikationsmittel ersetzt. Ich möchte mein Gegenüber fühlen, riechen und hören mit allen Facetten seiner Stimme, seiner Worte, seiner Emotionen, seiner ganzen Per-son und nicht mit den ausgewählten Frequenzen eines digitalen Audioprogramms abgespeist werden. Und ich möchte wieder ehrliche Gesichter sehen ohne Maske, Filter und Optimierungssoftware.

„Das Virus“ hat uns „die Sprache verschlagen“

 

Daran, dass das alles durch Corona nicht mehr uneingeschränkt möglich war, ist meine Freundschaft zu Anna in eine Sackgasse aus Miss- und Unverständnissen gelaufen. Mit meinen Gedanken möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass dies nicht inflationär auch anderen passiert. Dass Corona am Ende nicht deshalb zur Spaltung führt, weil man verlernt hat, sich wahrhaft zu begegnen.

Vielleicht mag der/die Eine oder Andere ja mal darüber nachdenken.

Ich wünsche es euch,

Cornelia